Besonders gefährdet: Kranke und Menschen mit Behinderungen
Berlin/Bad Driburg. Kritiker warnen vor gefährlicher Regelung im Bürgergeld – besonders Kranke und Menschen mit Behinderungen wären betroffen
Mit der geplanten Einführung der sogenannten „fingierten Nichterreichbarkeit“ im Rahmen der neuen Grundsicherung droht ein massiver Eingriff in das soziale Sicherungssystem. Nach dem vorliegenden Gesetzesentwurf soll künftig gelten: Wer einen Termin beim Jobcenter versäumt oder nicht erreichbar ist, gilt automatisch als „nicht mehr leistungsberechtigt“ – unabhängig von den Gründen. Das hätte zur Folge, dass Leistungen nach dem Bürgergeld komplett eingestellt werden könnten.
Ein Bruch mit bisherigen Sozialprinzipien
Bislang galt im Sozialrecht das Prinzip der nachträglichen Mitwirkung: Wer einen Termin versäumt, kann die versäumte Handlung später nachholen und so seinen Leistungsanspruch wiederherstellen.
Die neue Regelung hingegen führt einen Automatismus ein: Schon ein einmaliges Nichterscheinen oder eine nicht erfolgte Rückmeldung kann dazu führen, dass alle Zahlungen – inklusive Miete, Heizung und Krankenversicherungsbeiträge – sofort gestoppt werden.
Juristinnen und Sozialverbände sprechen von einem „Systembruch“. Damit werde das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum infrage gestellt, wie es das Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt hat. „Ein Verwaltungsakt darf nicht zur völligen Entrechtung führen“, kritisiert die Sozialjuristin Dr. Heike Möller vom Deutschen Sozialforum.
Besonders gefährdet: Kranke und Menschen mit Behinderungen
Die neue Vorschrift würde vor allem jene treffen, die ohnehin am Rande der Belastungsgrenze leben: Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder psychischen Beeinträchtigungen.
Viele von ihnen sind nicht jederzeit erreichbar – etwa während medizinischer Behandlungen, Reha-Aufenthalten oder aufgrund von gesundheitlichen Krisen.
Schon heute zeigen Studien, dass dieser Personenkreis überdurchschnittlich häufig Probleme mit behördlicher Kommunikation, technischen Hürden oder Postzustellung hat.
„Ich habe eine Schwerbehinderung und bin regelmäßig im Krankenhaus“, erzählt Frederike F.K. aus Bad Driburg, die Bürgergeld bezieht. „Wenn ich einen Brief vom Jobcenter nicht rechtzeitig öffnen kann oder krank bin, droht mir nach der neuen Regelung sofort der Verlust meiner Existenzgrundlage. Das ist unmenschlich.“
Kritik an Inklusions- und Barriereaspekten
Behindertenverbände sehen in der fingierten Nichterreichbarkeit einen Rückschritt in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit.
„Anstatt Unterstützung und Verständnis für besondere Lebenslagen zu zeigen, werden Menschen mit Behinderungen pauschal sanktioniert“, warnt der Sozialverband Deutschland (SoVD).
Digitale Kommunikation sei zudem nicht barrierefrei genug: Viele Betroffene können E-Mails oder Online-Portale der Jobcenter nicht eigenständig nutzen, und Briefe erreichen sie teils verspätet.
Damit werde eine strukturelle Benachteiligung gesetzlich festgeschrieben – ein klarer Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland verpflichtet, staatliche Verfahren zugänglich und diskriminierungsfrei zu gestalten.
Verfassungsrechtliche Zweifel und soziale Folgen
Rechtswissenschaftlerinnen weisen darauf hin, dass der Entzug der Leistungen bei fingierter Nichterreichbarkeit verfassungsrechtlich problematisch ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 betont, dass Sanktionen im Sozialrecht verhältnismäßig sein müssen und das Existenzminimum nicht gefährden dürfen.
Eine Regelung, die keine individuelle Prüfung der Umstände vorsieht, könnte daher als unzulässig und unverhältnismäßig bewertet werden.
Auch sozialpsychologisch wäre die Einführung riskant: Menschen, die ohnehin unter Druck stehen, könnten aus Angst vor dem System den Kontakt zu Behörden vermeiden, was Armut und Isolation verstärken würde.
Forderungen nach Rücknahme des Vorhabens
Mehrere Wohlfahrts- und Behindertenorganisationen, wie pro barrierefrei e.V. fordern daher, das Vorhaben zu stoppen oder deutlich abzumildern. Statt Sanktionen brauche es flexiblere Kommunikationswege, mehr individuelle Beratung und Rechtsanspruch auf Barrierefreiheit im Verwaltungsverfahren.
„Eine Gesellschaft zeigt ihre Stärke daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht“, sagt die Inklusionsaktivistin Michaela Riedel. „Wer Krankheit oder Behinderung hat, darf nicht durch Gesetzgebung in existentielle Not gebracht werden.“
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Hintergrund
Die geplante „fingierte Nichterreichbarkeit“ ist Teil einer Neuregelung des Sozialgesetzbuchs II und XII im Zuge der Reform der Grundsicherung. Sie soll laut Bundesarbeitsministerium Verwaltungsabläufe vereinfachen und Leistungsbetrug verhindern.
Sozialverbände warnen jedoch: Die vermeintliche Effizienzsteigerung könne „tausende unverschuldet Betroffene in Armut stürzen“ und das Vertrauen in die Sozialsysteme weiter untergraben.